Sebulon, Sohn des Samax: Es war schon spät, als Sebulon, Sohn des Samax, Rekrut in der ersten Ausbildungswoche und Zwerg aus dem Kreideland, am Wachetresen ankam. Braggasch Goldwart saß bereits gemütlich auf dem für ihn zu großen Wachestuhl und las in der neusten Ausgabe der Ankh-Morpork-
Times. Als Sebulon schnaufend zum stehen kam und sich den Schweiß von der Stirn wischte, legte Braggasch die
Times weg.
"Na, da hast du ja das beste verpasst, Sebulon. Harry hat vor zehn Minuten beschlossen, dass er nicht länger auf dich wartet und hat mich eingewiesen. Also alles unter Kontrolle."
Keuchend salutierte Sebulon, umrundete den Tisch und ließ sich erschöpft auf den zweiten Platz sinken.
"Warum bist du eigentlich so spät?", fragte Braggasch und wartete, bis Sebulon sich genug erholt hatte um antworten zu können.
"Ich habe die Stadt ein wenig erkunden wollen, um auf Streife besser zu wissen, wo ich bin und wo ich nicht sein wollte - und auf einmal schlug der Alte Tom.", sagte Sebulon und lächelte schief. "Mir war klar, dass ich zu spät war. Dann bin ich losgelaufen ... und das war der Zeitpunkt an dem ich mich zu verlaufen begann."
"Naja, kein Problem. Wenn du Harry morgen Früh nen Kaffee hinstellst und heute Nacht nichts dramatisches passiert, dann kann eigentlich nichts schiefgehen."
Sebulon nickte erleichtert.
"Geh dich umziehen; ich warte hier und halte die Stellung.", grinste Braggasch und hob die
Times wieder auf. "Wenn er dich morgen früh in Zivil am Wachetresen findet, hilft wahrscheinlich auch Kaffee nicht."
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Braggasch Goldwart: Als Sebulon zurück kam schielte Braggasch über den Rand der Zeitung.
"Da hängt noch ein Stück Hemd raus ...", kommentierte er und lächelte. Seit er in der Wache war, sah das Leben schon ein gutes Stück freundlicher aus. Der Zwerg hatte es sogar geschafft, seine Zurückhaltung abzubauen.
"Steht was intressantes drin?", fragte sein Wachpartner und nickte in Richtung der
Times, während er sich den widerwilligen Stofffetzen in die Hose stopfte.
"Naja, ..." Goldwart blätterte betont langsam um. "So dies und das ... eine Neueröffnung in der Pinienstraße ... Ephebisches Restaurant oder so. Ähm ... eine kleine Anzeige von der Unsichtbaren Universität ... die suchen wohl ein Buch und bezahlen Unmengen dafür. Naja. Uuund: ...", mit diesen Worten verbreiterte sich Braggaschs Lächeln - er hatte schon eine Weile gewartet um seine Neuigkeit Sebulon zu präsentieren. "Ein Artikel zur neuen Grandrasch dreitausendundfünf!"
"Isses wahr!" Schnell war Sebulon an der Seite des anderen, um einen Blick auf die aufgeschlagene Seite zu erhaschen.
"Ja! Mit Bauzeichnungen! Schau mal, hier." Braggasch tippte mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt in dem Bild der Armbrust "Sie haben den Gegenzugsmechanismus verstärkt, anscheinend versuchen sie damit die Schussweite zu erhöhen."
"Dann müssten sie aber auch die Drahtsehnen verstärken, sonst halten die das nicht aus."
"Genau das hatte ich mir auch gedacht!", brabbelte Braggasch aufgeregt. Es war schön mit jemandem diskutieren zu können; jemandem, der die gleiche Freude an Feinmechanik hatte wie er.
"Und hier, Führungsrillen für einen gedrehten Flug.", ergänzte Sebulon.
"Wo? Die hab ich noch gar nicht gesehen!"
"Sind wohl nur angedeutet. Aber das dürfte die Stabilität der Flugbahn gehörig erhöhen."
"Zumindest wenn auch der Bolzen-"
Ein greller Schrei unterbrach Braggasch.
Danach herrschte Stille.
Nun, Schreie waren in der Nähe der Wache nichts ungewöhnliches. Ob nun hysterisch, freudig, ängstlich, wütend oder einfach nur irre - Schreie waren hier an der Tagesordnung. Doch dieses neuste Exemplar hatte recht ... bedroht geklungen.
"Äh ... was war das?", murmelte Braggasch leise. Nervosität brach ihre Bahnen wie ein zu lange gestauter Fluss.
"Zumindest nichts gutes.", gab sein Partner grimmig zur Antwort, während er seine kurze Axt aus dem Gürtel zog.
"Äh ... aber jetzt ist es ja vorbei. Äh. Ich denke ...-"
Ein erneuter Schrei, dieses Mal jedoch etwas leiser.
"Oder auch nicht.", brummte Sebulon, rammte sich den Helm auf den Kopf und eilte aus dem Wachhaus.
"Äh ...", konnte Braggasch noch herausbringen, bevor er sich seine leichte Armbrust schnappte und folgte.
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Sebulon, Sohn des Samax: Nebel lag in den Straßen von Ankh-Morpork, als Sebulon das Wachhaus verließ und sich umsah. Er rechnete kurz: die beiden Schreie waren acht Sekunden voneinander entfernt erklungen. Um ähnlich laut klingen zu können, musste der Schreiende - oder war es eine Frau gewesen? - mindestens eine Kreuzung geschafft haben. Das machte eine Geschwindigkeit von wiederum mindestens etwa fünf Zwergenschritten pro Sekunde ... aber wo? Es war leiser gewesen, also hatte er sich entfernt ... ein weiterer Hinweis wäre gut. Er sah auf den Boden.
Das war ein Hinweis.
Braggasch kam neben ihm zum Stehen und sah ihn an. "In welche Richtung?", fragte er?
"Dieser Blutspur hinterher.", meinte Sebulon trocken und korrigierte sich dann: "Zumindest theoretisch. Praktisch wird einer von uns beiden wieder hier reingehen, die Taube zum Oberstabsspieß schicken, den Papierkram ...-"
"Regeln sind nur ... Regeln. Wir sind doch bestimmt vor Sonnenaufgang zurück; das merkt keiner.", sagte Braggasch zwinkernd. "Außerdem hab ich noch keine Chance gehabt meine Armbrust mal in der Praxis einzusetzen! Nenn es ... die Neugier eines Bastlers. Da lang, sagst du?"
Grinsend seufzte Sebulon. "Nein." Er deutete ein Stück weiter in nördliche Richtung. "Simples Rechnen. Folg mir ... hier entlang."
Nach einem kurzen Sprint von einhundert Metern durch die nebelnasse Straße erreichten die beiden Wächter eine Kreuzung und trafen wieder auf die Blutspur, die bedenklich dünn geworden war. Zufrieden schnalzte Sebulon mit der Zunge und kniete sich nieder.
"Einen dritten Schrei werden wir nicht bekommen, fürchte ich.", flüsterte er mit einem weiteren Blick auf das Blut am Boden.
"Äh ... Potzdonner.", keuchte Braggasch. "Wo hast du so laufen gelernt?"
"Was, war ich schnell?", wunderte sich Sebulon geistesabwesend. Er stand wieder auf und zeigte in die Querstraße. "Die Spur führt da rein."
"Äh ... warte ... sollten wir nicht ...", begann Braggasch, doch er war bereits allein auf der Kreuzung.
Sebulon sah sich um. Dieses Haus musste es sein: hier endete die Blutspur, die durch den einsetzenden Nieselregen bereits fortgetragen wurde. Ein Lagerhaus, dunkel, nicht nobel aber den Wagenspuren zufolge wahrscheinlich tagsüber gut besucht. Wer würde eine Leiche in ein belebtes Warenhaus bringen? Aus dem Haus selbst kamen Geräusche. Gut, also war jemand im Haus, bei dem man sich später umhören
[1] könnte.
Braggasch bog, laut schnaufend, um die Ecke. Keuchend stützte er sich auf seine Knie und sah sich um. Nach Atem ringend fragte er: "Noch ... weit?"
"Wir sind da, keine Sorge.", flüsterte Sebulon, ebenfalls schwer atmend. "Nur wie kommen wir jetzt in das Haus rein?"
Braggasch schleppte sich bis ans Haus, lehnte sich seitlich gegen die Tür, wischte sich Schweiß und Regen von der Stirn und zog einen Dietrich aus Messing aus der Tasche. Dann sah er sich die Tür und das Schloss an, schüttelte den Kopf und steckte den Dietrich wieder ein.
"Was, ist dir das Schloss zu schwer?", fragte Sebulon verblüfft.
"Das nicht.", brachte Braggasch zwischen zwei Atemzügen hervor. "Aber der Balken dahinter schon. Wir brauchen einen anderen Eingang."
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Braggasch Goldwart: Möglichst geräuschlos begannen sie das Lagerhaus zu umkreisen. Es war ein großes, verwinkeltes Gebäude, das sich nach hinten vergrößerte. Von der Straße aus gesehen, schloss es auf der linken Seite direkt mit einem anderen Haus ab, doch zur Rechten war eine schmale Gasse.
"Wie wäre es damit?", flüsterte Sebulon und deutete auf ein kleines Fenster, das in zweieinhalb Metern Höhe an der rechten Wand, wenige Meter die Gasse hinein, befand.
"Möglich ...", meinte Braggasch, "Aber wie kommen wir rein?"
"Zwergenleiter?"
Ohne weitere Absprache faltete Sebulon die Hände vor seinem Bauch. Braggasch war nicht nur leichter, sondern auch eindeutig schwächer als er, daher würde es kein Sinn ergeben wenn der Blondgelockte unten stehen bliebe.
Vorsichtig kletterte Goldwart über die verschränkten Hände auf die Schultern seines Kollegen und stützte sich an der Wand ab. Nun kam er mit ausgestreckten Armen an das Fenster.
"Verschlossen.", murmelte er finster und kramte in seiner Tasche nach seinem extrem flachen Metallstab. Diesen zwängte er durch die feine Fuge zwischen den Fensterläden und konnte so den schlichten Holzriegel, der das Fenster verschlossen hielt, hochklappen und die Läden nach außen hin öffnen.
Beinahe wäre er bei dieser Aktion von den Schultern Sebulons gefallen.
"Verdammt.", brummte Braggasch verdrossen.
"Was ist?", wollte der andere Zwerg sofort wissen, und konnte nur mit Mühe leise bleiben.
"Es ist zu schmal, um die Armbrust mitzunehmen. Und auch zu schmal für dich ..." Der Sohn Burkhards hätte nie gedacht, dass ihm seine filigrane Figur einmal nützlich sein würde.
"Und jetzt?"
"Äh ... wir treffen uns am Eingang ...", flüsterte Baggasch, während er die Armbrust vom Gürtel löste und nach unten reichte.
"Du willst unbewaffnet in ein dunkles, unbekanntes Haus eindringen, in dem wahrscheinlich ein Mörder lauert?", flüsterte Sebulon energisch. Die Art seiner Frage ließ definitiv schließen, dass er seinen Kollegen nun für geisteskrank hielt.
"Nein ... äh ... aber mir fällt nichts besseres ein.", und mit diesen Worten zog sich Braggasch Goldwart umständlich und mühsam zum Fenster hinauf.
Kopfschüttelnd und nervös trat Sebulon wieder aus der Gasse auf die Straße und legte ein Ohr an das Haupttor. Erst waren kratzende Geräusche zu vernehmen, dann plötzlich Stille.
Sebulon fluchte lautlos und trat einige Schritte zurück, Braggaschs Armbrust hebend.
Einige Sekunden später flackerte ein Licht unter der Tür hindurch. Das Geräusch eines schweren Balkens, der aus seiner Schiene gehoben wird, war zu hören.
Sebulon sah die Armbrust an und hob sie. Zwar hatte er keine Übung im schießen, doch auf diese Entfernung war das bestimmt nicht nötig.
Langsam und knarrend öffnete sich einer der Torflügel und Braggaschs grinsendes Gesicht samt einer Laterne späten hinaus. Sebulon schnaufte und ließ die Schusswaffe wieder sinken.
"Du hast dir verflucht viel Zeit gelassen!", murrte er.
"Tut mir leid, ich musste zuerst eine Lichtquelle finden. Äh ... die hier gelagerten Kästen sind zum Glück bis fast unter das Fenster gestapelt und, äh, es gab eine Laterne mit Anzünder direkt am nächsten Pfosten. Ich glaube -", Braggasch brach ab und starrte auf den Boden.
"Was? Was ist?", wollte Sebulon sofort wissen, doch dann sah er es selbst: Ein dunkler Fleck Blut genau vor der Tür, im Dunkeln war er nicht zu erkennen gewesen.
"Da ist doch was seltsam dran...", brummte der außen stehende Wächter und bedeutete seinem Kollegen mit der Lichtquelle näher zu kommen.
"Was denn?", wollte Braggasch neugierig wissen.
"Siehst du das hier?" Sebulon beugte sich so tief zu dem Blutfleck hinunter, dass seine Nase fast den Boden berührte. "Hier sind Spuren. Zwei. Menschlich, würde ich sagen. Aber... Sie hören hier auf... Gehen nicht ins Lagerhaus hinein... Verschwinden völlig. Das eine Paar wirkt tiefer eingedrückt... Das andere... Hmm, sieht so aus als wäre der andere halb gezogen worden. Und dann sind beide weg."
"Seltsam.", flüsterte Goldwart. Die aufsteigende Angst schwang deutlich in seiner Stimme mit.
"Gehen wir uns umsehen.", antwortete sein Kollege, drückte ihm die Armbrust wieder in die Hand und bewegte sich vorsichtig in das Lagerhaus hinein.
Sie hatten ungefähr die Hälfte des Lagers erreicht, als sie die Leiche fanden.
Es war eine Frau. Ärmlich gekleidet und definitiv tot. Am Boden war kein Blut zu sehen, obwohl der aufgeschnittene Hals eigentlich eine andere Sprache hätte sprechen müssen.
Sie lag einfach da, mitten im Hauptgang der sich durch die Kistenberge schlängelte.
Beide Zwerge handelten instinktiv. Eigentlich wäre spätestens dies der Punkt gewesen um umzukehren, doch daran dachten sie nicht einmal.
Sebulon nahm seine Axt in die Hand, und hielt sie kampfbereit. Braggasch kniete neben der Frau nieder, die Armbrust locker in der rechten Armbeuge abgestützt.
"Die Kehle ist durchgeschnitten ...", wisperte er. "Ziemlich sauber. Eigentlich sogar zu sauber ..."
"Ich seh' mich mal um.", hauchte der Sohn von Samax. Da sie eine weitere Laterne gefunden hatten, war jeder der Zwerge mit Licht versorgt.
Sie sahen einander an, nickten - in der Fachsprache der Wache bedeutete das so viel wie: "Pass auf dich auf" - und Sebulon entfernte sich in die tieferen Weiten des Lagers hinein.
Braggasch untersuchte indessen den Leichnam genauer. Außer einigen nach Schnaps stinkenden Flecken auf dem Hemd und wenigen Blutstopfen auf der linken Schulter war die Frau sauber. Wahrscheinlich war sie auf dem Weg von der Kneipe nach Hause überrascht worden.
Dann entdeckte der Zwerg es. Zweifelnd sah er genauer hin, doch das konnte kein Zufall sein.
"Sebulon!", hauchte er halblaut in die Weite des Raumes hinein.
"Ja?", antwortete dieser, ohne sich umzuwenden, in der gleichen Lautstärke.
"Ich glaube wir machen einen Fehler!" Die Panik in der Stimme des Anderen ließ Sebulon jetzt doch umdrehen. Er war einige Meter weiter in einen der Seitengänge zwischen den Kisten hineingegangen, die ihm den direkten Blick auf Braggasch verwehrten.
"Dieser Schnitt ...", erklärte Goldwarts körperlose Stimme, "Er ist ... also ... er scheint nur Tarnung zu sein ... wenn man genau hinguckt sieht man Spuren von-"
Der Zwerg brach mit einem überraschten Aufschrei ab.
Es klapperte.
Dann herrschte Stille.
Mit wenigen weiteren Schritten war Sebulon um die letzten Kisten herum und sah die Laterne seines Kollegen unschuldig neben der Frau auf dem Boden stehen. Braggaschs Armbrust lag schussbereit und einsam am Fuße der Leiche.
Von dem Zwerg selber fehlte jede Spur.
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Sebulon, Sohn des Samax: "
B'ka'ar't'k!"
[2], rief Sebulon und tastete sich in alle Richtungen umsehend, zur Tür zurück.
Es war ein Fehler gewesen. Ein großer. Sie hätten Harry bescheid sagen müssen. Sie hätten S.U.S.I. kontaktieren sollen. Und jetzt war das sogar ein Fall für R.U.M. - aber wer war da? Zwergenrekruten. Und jetzt hatte es Braggasch erwischt. "
B'ka'ar't'k R'schk'la!
[3]"
Hinter sich spürte Sebulon den Türrahmen und zuckte zusammen. Er stellte die Lampe neben sich auf eine Kiste und sah nach oben. War da etwas?
In der rechten Hand hielt er seine Axt, in die Linke nahm er den schwersten Schraubenschlüssel, den er an seinem Gürtel hatte.
Vor ihm landete
Etwas und sah ihn an.
"Für Braggasch Burkahrdssohn Goldwart!", brüllte Sebulon, rannte auf sein Gegenüber zu und überließ sich seinen Instinkte.
Schnaufend kam er zum stehen. Was war passiert? Er hatte das Monster gesehen und dann hatte er rot gesehen.
Axt und Schraubenschlüssel waren rot von Blut. Er sah an sich herab. Er schien unverletzt, außer Kratzern am Arm und am linken Knie. Also hatte er
es erwischt. Aber wo war
es hin?
Ein Erinnerungsfetzen blitzte in seinem Kopf auf.
Es war geflohen. Er sah sich um. Draußen goss es in Strömen.
Kraftlos sank der Wächter auf seine Knie und legte die beiden Waffen auf den Boden.
"Braggasch.", flüsterte er. "Braggasch."
Eine Träne rollte aus seinem Auge und verfing sich im Bart.
Ein Geräusch ließ ihn hochsehen. Im strömenden Regen vor der Tür stand ein Mensch, vielleicht sieben Jahre alt, und sah ihn mit großen Augen an. Sebulon war mit einem mal klar, was zu tun war.
"Junge, hör mir zu. Lauf zum Wachhaus am Pseudopolisplatz und sag den Wächtern, sie sollen jemanden herschicken, es ist ein 17-22. Merk dir das. Ein 17-22.", sagte er und warf dem Jungen eine Münze hin. "Hier, als Gedächtnisstütze."
Kaum hatte der Kleine die Münze gefangen, war er verschwunden.
"Zumindest denke ich, dass das die richtigen Zahlen waren.", murmelte Sebulon und stand langsam auf. Seine Beine zitterten, aber er hatte keine Wahl. Er musste Braggasch finden. Nur wo ...? Ein weiteres Geräusch - ein regelmäßiges, leises Klopfen - ließ seinen Blick suchend wandern.
Neben ihm tropfte Blut auf den Boden.
"
B'ka'ar't'k!"
Die Axt und sein Werkzeug in sein Hemd gewickelt und regensicher in den Gürtel gesteckt, den ohnmächtigen Braggasch über die Schulter gelegt, so schleppte Sebulon sich durch den strömenden Regen zurück in die Kröselstraße. Er hatte keine Zeit. Mit Wunden kannte er sich nicht aus und sein Kollege verlor noch immer Blut.
Mit der Schulter drückte er die Tür zum Wachhaus auf und legte den Zwerg von seiner Schulter auf den trockenen Boden. Dann setzte er sich, völlig entkräftet, auf den Boden und rief um Hilfe, so laut er konnte.
Der erste, der kam, war Oberstabsspieß Harry.
Im Wachhaus in der Kröselstraße gab es trotz der frühen Stunde wieder ein geschäftiges Treiben. Schnell wurde von einem Offizier Verbandszeug gebracht; ein anderer Wächter holte Alkohol zum desinfizieren.
"Du hast Glück, Junge, dass es ihn nur am Arm getroffen hat.", brummte Harry und versorgte die Wunde des noch immer ohnmächtigen Braggasch notdürftig. Nachdem er sie verbunden hatte, sah er dem Rekruten Sebulon tief in die Augen. "Du hast noch größeres Glück, dass ich nicht in der Stimmung bin, dir eine Standpauke zu erteilen, obwohl du mich aus dem Schlaf gerissen hast. Und jetzt sag mir:
Was hat ihn getroffen?"
"Sir, ich weiß es nicht.", sagte Sebulon und zitterte am ganzen Körper. "Es war so schnell."
Eine Wächterin kam, mit einer widerstrebenden und mit den Flügeln um sich schlagenden Taube in der Hand, in die Eingangshalle gestürmt. "Sör!", rief sie, blieb vor ihm stehen und salutierte. "Der Pseudopolisplatz meldet einen Mord. Griebchengasse drei. Ein Warenhaus. RUM untersucht den Fall. Das Opfer ist eine betrunkene Frau, eine Schnittwunde am Hals, völlig ausgeblutet. Der Täter scheint über ein Seitenfenster in das Haus eingestiegen zu sein. Es wurde aber nicht aufgebrochen."
Harry nickte, die Wächterin fuhr fort: "Der Nachricht zufolge hat ein kleiner Junge, der von einem Zwerg den Auftrag dazu bekommen hatte, einen Wasserrohrbruch gemeldet. Am Tatort wurde kein Zwerg gefunden. Sör."
"Danke, Rekrutin Padona.", sagte Harry und nahm ihr die Nachricht ab. "Bitte sei so freundlich und bring die Taube wieder nach oben. Wenn du zurückkommst, bring mir bitte einen Kaffee." Zu Sebulon gewandt fügte er hinzu: "Und wir beide setzen uns jetzt in ein ruhiges Büro und reden".
Harry sah Sebulon an, der seinen Helm abgelegt hatte, und nun auf den Boden starrte.
"Ich glaube nicht an Zufälle. Raus mit der Sprache."
Sebulon starrte weiterhin den Boden an. Harry ging auf dem Schreibtisch umher, den Blick starr auf den Zwerg gerichtet. Dann blieb er wieder stehen und sagte in autoritärem Tonfall, der keine Widerrede duldete: "Rekrut, warum ist deine Uniform nass?"
"Wir haben den Mörder verfolgt, Sir."
"Den Mörder aus der Griebchengasse?"
"Ja, Sir."
Wiederum ging Harry vor dem Zwerg auf und ab.
"Was ist die Grundregel für Rekruten, Rekrut?"
"Nichts auf eigene Faust unternehmen, Sir."
"Was war eure Aufgabe?"
"Sir, wir mussten etwas unternehmen.", sagte Sebulon verzweifelt und sah seinen Ausbilder an. "Ein Bürger war in Gefahr."
"Darum habt ihr beide euren Posten verlassen und seid Hals über Kopf einem unbekannten Mörder hinterher? Ohne Verstärkung zu rufen? Ohne nachzudenken?"
Sebulon schwieg und sah wieder zu Boden.
"Bei den Göttern, Braggasch könnte tot sein! Es hätte genausogut dich erwischen können!"
Der Zwerg nickte ohne aufzuschauen. Sein Ausbilder seufzte und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Dann setzte er sich auf den Tisch und sah wieder den Zwerg an.
"Das wird Folgen haben. Ich weiß noch nicht, welche, aber ich kann solchen groben Unsinn in der Wache nicht dulden."
Es klopfte an der Tür. Ein Rekrut trat ein.
"Sör, der Zwerg ist aufgewacht. Du solltest kommen - er möchte dir etwas sagen."
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Braggasch Goldwart: Braggasch hatte sich unter Schmerzen auf der harten Pritsche aufgesetzt und gegen die Wand gelehnt. Sein Kopf dröhnte und sein ganzer Körper tat weh, als hätte man ihn in einem Sack voll Zwergenbrot einen Berg hinab gerollt, nachdem er mehrere Becher zuviel von einem gewissen, hauptsächlich aus sauren Äpfeln hergestellten Getränk zu sich genommen hatte.
Er konnte immer noch nicht vollkommen scharf sehen, aber das kleine Männchen, welches auf das Bettende gehüpft war und ihn aufmerksam musterte, kam ihm bekannt vor.
"Sör?", murmelte er.
"Verdammt richtig. Du wolltest mit mir sprechen."
"Ja, Sör." Braggasch schluckte. "Wir haben einen Fehler gemacht ..."
"Das weiß ich. Sebulon hat ... einige Dinge erklärt.", stellte Harry klar. "Weißt du eigentlich was für große Kreise eure Tat zieht? RUM, SUSI und wenn mich nicht alles täuscht auch bald Intörnal Affärs."
"Tut mir leid ... Sebulon hat nichts -"
"Komm mir jetzt bloß nicht mit der Es-war-alles-meine-Idee-Scheiße. Erstens glaube ich dir das nicht und zweitens hängt ihr da beide drin." Der Oberstabsspieß rieb sich die Nase und fragte dann fast sanft: "Was habt ihr euch nur dabei gedacht?"
"Nicht viel ...", gab Braggasch zu. "Sör, wir wollten einfach nur -"
"Helfen, schon klar.", beendete der Gnom den Satz für ihn.
"Es ging alles so schnell ...", murmelte der Zwerg. "Da war der Schrei und wir sind hinterher ... einer Blutspur hinterher ... und wir sind in das Lagerhaus eingebrochen, Sör."
"Das habe ich mir auch schon gedacht. Weiter."
Sebulon erschien in der Tür und folgte stumm den Ausführungen seines Freundes.
"Naja ... da war die Leiche ... die Schnittwunde! Sie müssen sich unbedingt genau die Schnittwunde ansehen!"
"Da kümmern sich die anderen schon drum, Braggasch, keine Sorge."
"Äh ..." Der Zwerg verlagerte das Gewicht und stöhnte. "Und dann ist Sebulon weiter ins Lagerhaus, Sör."
"Eine sehr dumme Idee, sich unter solchen Umständen zu trennen.", bemerkte Harry streng.
"Ja, Sör. Und dann ... dann hat mich etwas von hinten gepackt, als ich Sebulon grade meine Entdeckung zurufen wollte ... etwas hat mich gepackt und hochgezogen ... ich habe die Armbrust fallengelassen, Sör..."
"Weiter.", drängte der Vorgesetzte vorsichtig, als Braggasch verstummte.
"Ich habe mich so hilflos gefühlt ... und da war ein Gesicht, Sör, eine Fratze, mit gierigen, roten Augen und einem großen Mund ... und scharfen Zähnen, und vielen Haaren ... und es schnappte nach mir ... nach meinem Hals, und da habe ich mich mit aller Kraft zurück geworfen, und da hat es nur meinen Arm erwischt."
"Es hat dich in den Arm gebissen? Das solltest du dringend untersuchen lassen."
"Ja, Sör. Und dann hat es mich fallen gelassen, und ich bin mit dem Kopf irgendwo gegen gestoßen, und dann wurde alles schwarz. Ich hab geglaubt jemand hätte meinen Namen gerufen ..."
Der Gnom nickte gedankenverloren.
"Gut, Wächter, ruh dich aus. Ich rede später noch einmal mit dir.", und mit diesen Worten verließ Harry das Zimmer.
"Ein großes Maul, Sir, und viele Haare?", brummte Sebulon, als er und der Oberstabsspieß ein wenig vom Zimmer entfernt waren. "Ich hatte angenommen es handelt sich um einen Vampir, aber das klingt nicht sehr danach."
"Vergiss nicht, dass es dunkel war und Braggasch wahrscheinlich unter Schock stand. Außerdem können auch Vampire haarig sein.", erklärte Harry, jedoch war er mit den Gedanken weit abwesend. "Leg dich schlafen, Sebulon. Auf mich wartet ein ziemliches Papierchaos."
Der Zwerg nickte und salutierte. "Jawohl, Sir."
Nach einigem Zögern ging er noch einmal zurück in Braggaschs Krankenzimmer.
"Da haben wir uns ziemlichen Ärger eingebrockt, was?", empfing ihn sein Freund.
"Das kannst du laut sagen.", brummte Sebulon und fügte hinzu: "Und das bei unserer ersten Nachtschicht ohne Aufsicht."
Braggasch schnaubte. Dann fing er an zu kichern.
"Was hast du?"
"Oh ... Nichts ... Nichts...", brachte er zwischen dem leisen, hysterisch klingenden Lachen hervor. "Mir ... ist nur aufgefallen ... mir ist aufgefallen ... dass ich ... beinahe ... gestorben wäre."
"Und das findest du lustig?"
"Nein ... überhaupt nicht." Nur langsam beruhigte sich der Zwerg wieder. "Ich glaube ich bin einfach müde.", murmelte er erschöpft.
Sebulon nickte und verließ den Raum.
An der Tür blieb er noch einmal stehen und drehte sich um.
"Braggasch?"
"Hmmm?", murmelte dieser schläfrig.
"Ich bin froh, dass du noch lebst."
Braggasch lächelte. "Ich auch."
Sebulon schloss die Tür machte sich auf die Suche nach einem Bett.
Unruhig ging Harry auf dem Wachetresen hin und her, schon seit fünf Minuten. Die beiden Zwerge saßen vor ihm auf Stühlen und sahen den Ausbilder niedergeschlagen an. Seit einer halben Stunde saßen sie in dem Ausbilderbüro, das sich der Oberstabsspieß für dieses Gespräch ausgeliehen hatte, und ließen eine Standpauke über sich ergehen. Er hatte ihnen sogar noch einmal einen Teil des Handbuchs vorgelesen. Nun schwieg er und das war mindestens genauso belehrend.
Dann blieb er stehen.
"Doch, eins hab ich noch nicht gesagt: Ich erwarte, dass ihr aus euren Fehlern lernt."
Sebulon und Braggasch nickten zögernd.
"Wisst ihr, ich bin wirklich kein Ausbilder von der harten Sorte. Es macht mir keinen Spaß euch zurechtzuweisen. Es wäre mir am liebsten, wenn so etwas einfach nie wieder vorkommt."
Langsam sah er von dem einen Rekruten zum anderen.
"So, nun habe ich genug geredet."
"Sir, ..."
"Ja, Sebulon?"
"Sir, wir haben gehört, dass in solchen Fällen die Abteilung Int..."
Harry wedelte mit seiner kleinen Hand.
"Das bringt nur Papierkram mit sich und davon habe ich bereits genug. Mir ist es lieber, wenn es nicht noch mehr wird."
Die beiden Zwerge atmeten gleichzeitig erleichtert aus.
"... für diesmal zumindest. Sollte so etwas noch einmal vorkommen - und ich hoffe
ernsthaft, dass nichts dergleichen noch einmal passiert -, dann werde ich um den Papierkram leider nicht mehr herumkommen."
"Äh ... danke, Sör.", sagte Braggasch.
"Ihr könnt gehen, Jungs."
[1] Umhören ist eine Spielweise des Verhöhrs. Wir funktioniert das? Man verhöhrt einen mutmaßlichen Täter, indem man sich verhört, wenn er etwas sagt, mit dem Ziel ihm Geständnisse abzugewinnen. Man hört sich um, indem man Fragen stellt und gleichzeitig schlimme Strafen androht, um Informationen zu bekommen, die der Befragte eigentlich nicht sagen wollte. Eine unerhöhrt ungehöhrige Art, doch vor allem im Streifendienst vielfach mit Erfolg gekrönt.
[2] In der Sprache der Kreidelandzwerge hieß das etwa: Elendes Sonnenlicht. Einen schlimmeren Fluch findet man in ihrer Sprache nur durch Kombination mit weiteren Flüchen.
[3] Beispielsweise so.
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