Familienbande

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von Hauptgefreiter Harry, Obergefreite Venezia Knurblich
Online seit 12. 09. 2000
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Sämtliche Wächter scheinen plötzlich nichts anderes im Kopf zu haben, als ein ominöses Kartenspiel, für das niemand so genau die Regeln zu kennen scheint. Der Wachdienst leidet schon darunter.
Wer ist dafür verantwortlich? Kannst Du es stoppen, ohne selber davon infiziert zu werden?

Dafür vergebene Note: 14

[Harry]


Es war ein ganz normaler Tag in der Wache - das heißt, die Wächter saßen alle irgendwo im Aufenthaltsraum und hofften, daß ihr Kommandeur sie nicht mit irgendwelchen Aufträgen belästigen würde.
Plötzlich beendete ein Schrei die harmonische Ruhe:
"Aber du hast doch gesagt, das Oktav ist mehr wert als der Patrizier!"
"Ja, eigentlich schon - aber am Jahrestag des Großen Feuers von Morpork zählt der Patrizier nun einmal die doppelte Punktzahl!"
Die beiden Gnome der Wache, Venezia und Harry, saßen auf einem Tisch, hatten sich gemütlich gegen die wärmende Kaffeekanne gelehnt und waren bis eben in ihr Drachenpoker-Spiel versunken, aber jetzt hatte Harry die Karten auf den Tisch geschmissen und sah ziemlich betrübt drein.
"So ein Mist, also habe ich schon wieder verloren..." Er unterbrach sich plötzlich und sah Venezia mißtrauisch an. "Und du hast dir das nicht alles nur ausgedacht?"
Vor einigen Wochen hatte Venezia angefangen, den Wächtern Drachenpoker beizubringen - ein Spiel, dessen Regeln so komplex waren, daß die meisten der anderen Wächter schnell wieder aufgegeben hatten (vielleicht lag es auch daran, daß die Karten für Gnome zwar die richtige Größe hatten, von anderen aber ohne Pinzette kaum zu halten waren). Eine kleine Gruppe von Wächtern jedoch, darunter auch Harry, versuchte immer wieder, die Regeln zu lernen - mit dem Ziel, die bisher ungeschlagene Venezia zu besiegen. Dies ging zwar auf Kosten der Verbrechensbekämpfung, aber man muß nun einmal Prioritäten setzen...
Jedenfalls hatte Harry heute inzwischen das fünfte Spiel in Folge verloren - und so langsam fragte er sich, ob seine Kollegin ihn an der Nase herumführte.
"Ausgedacht?" antwortete diese gerade. "Aber nein, so sind nun einmal die Regeln!"
"Aber immer, wenn ich denke, ich habe sie verstanden, kommst Du mit einer neuen Zusatzregel an!"
"Das ist nun einmal der Reiz des Spieles! Wenn es leicht zu lernen wäre, würde es doch keinen Spaß machen!"
"Aber wie soll man ein Spiel schaffen, wenn der Gegner der einzige ist, der alle Regeln kennt?"
"Deswegen bringe ich sie dir doch bei!"
"Aber manchmal habe ich das Gefühl, daß die Regeln sich immer wieder zu deinen Gunsten ändern!"
"Also Harry!" Jetzt war es Venezia, die entrüstet guckte. "Willst du etwa damit sagen, ich schummle?"
"Nein... natürlich nicht..." druckste Harry. "Ich meinte nur... es wäre schön, die Regeln einmal schriftlich zu haben, damit man sie nachschlagen kann!"
"Das ganze Regelwerk? Alle 948 Seiten?"
"Genau", entgegnete Harry, der insgeheim davon überzeugt war, daß es so ein Regelwerk überhaupt nicht gab, und das ganze Spiel ein einziger Schabernack seiner Kollegin war.

[Venezia]


Die Gnomin starrte ihn entsetzt an. "A-aber d-d-das geht d-d-doch nicht!!!" stotterte sie, ganz bleich um die Nase herum geworden.
Harry grinste breit. "Das war ja klar! Ich wußte es doch, es existiert gar kein Regelwerk, du verschaukelst uns nur, willst uns ausnehmen, was?"
Venezia ballte ihre Hände zu Fäusten. "Harry, bitte! Das kannst du nicht von mir verlangen! Ich schwöre, es gibt Regeln, aber... ich mein... das geht doch nicht..."
"Also, entweder ich bekomme die Regeln, oder du kannst dir jemand anders suchen, den du in einer Tour über den Tisch ziehen kannst, ich hab genug davon!"
"Na gut, du hast es nicht anders gewollt! Wenn du unbedingt willst, bringe ich dich zu jemandem, der dir die Regeln gibt, aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!" Venezia war inzwischen aufgesprungen und schlug mit der Faust auf die Kaffeekanne. So aufgebracht hatte Harry die Gnomin noch nicht- na ja, noch nicht oft... zumindest meistens nicht- erlebt. Sie kletterte umständlich vom Tisch (man hatte es immer noch nicht geschafft, ihn mit einer kleinen Leiter zu versehen) und machte sich auf in Richtung Gnomenklappe in der Tür.
"Na, was ist nun, Harry? Kommst du oder nicht?" fragte Venezia aufgebracht.
Der Gnom seufzte und folgte seiner Kollegin, und ab ging es durch die Straßen von Ankh-Morpork.
Voller Argwohn merkte Harry bald, daß die Straßen in dem Bereich in dem sie sich bewegten dreckiger und die Schatten dunkler wurden. "Öhm, Venezia? Sind wir hier dort, wo ich glaube, wo wir sind?" Harry wurde nervös.
"Wir sind in den Schatten. Gibt es da irgend etwas dran auszusetzen? Ich dachte, du willst die Regeln unbedingt haben!"
"Ach, wir befinden uns also in den Schatten? Und du fragst, ob ich daran was auszusetzen hab?!? Natürlich! Das sind die Schatten! Was zum Geier wollen wir hier???" Harry blieb stehen. Es paßte ihm ganz und gar nicht, daß sie sich hier befanden, zumal die beiden Gnome die Uniform der Wache trugen.
Venezia drehte sich genervt um und verdrehte die Augen. "Mein lieber Harry. Du wolltest die Regeln für Drachenpoker haben. Das ist ein Glücksspiel. Was glaubst du wohl, wo es her kommt, wenn nicht aus den Schatten? Krimpik hat es erfunden, und den finden wir nun mal hier."
"Krimpik?!? DER Krimpik? Sprechen wir von der gleichen Person? Krimpik Knurblich? ...Moment mal! Du willst doch nicht sagen..." Harry schaute sie erschrocken an.
"Krimpik ist mein Onkel, gibt es da irgendwas gegen einzuwenden? Ich kann da nix für, ich hab mir meine Verwandtschaft nicht ausgesucht. Und das er zufällig ein großes... öhm, ein einflußreiches Tier in der Unterwelt von Ankh-Morpork ist, dafür kann ich ja schließlich auch nichts! Los, komm jetzt."
Venezia stapfte um die nächste Ecke. Harry hörte ihre Stimme "Oh. Verflucht!" sagen, dann noch einen dumpfen Ton, dann war es still...

[Harry]


Vorsichtig spähte Harry um die Ecke: Venezia lag vor einem Loch, das zwischen zwei Häusern in die Tiefe führte. Leuchtkäfer waren über diesem Loch an einer Schnur aufgefädelt und bildeten den Schriftzug "Fuchsbau", der regelmäßig blinkte.
Tatsächlich sah das Loch einem Fuchsbau ziemlich ähnlich - aber Harry hatte noch nie einen mit Leuchtschrift gesehen.
Außerdem interessierten ihn auch viel eher die beiden anderen Gnome, die Knüppel in der Hand hielten und sich über Venezia beugten. Gerade unterhielten sie sich in einer Harry unbekannten Sprache miteinander.
Als Harry noch nachdachte, wie er seine Kollegin - möglichst ohne sich zu gefährden - retten könnte, schlug diese die Augen auf, sprang auf und brüllte die beiden Gestalten in der gleichen Sprache an.
Nach einem kurzen Wortwechsel verschwand einer der beiden im Loch und Venezia kehrte zu Harry zurück.
"Es ist alles in Ordnung. Die beiden neigen dazu, etwas voreilig zu handeln."
"Die beiden? Du... du kennst sie?"
"Ja, ich kenne sie. Das sind Handlanger von meinem Onkel. Jetzt komm schon!"
Immer noch etwas mißtrauisch ging Harry mit Venezia zurück zum Eingang des Fuchsbaus, als ein imposanter Gnom herauskam: Er war etwas größer als der durchschnittliche Gnom und trug einen maßgeschneiderten Anzug aus Fuchsfell.
"Venezia! Bella! Mi cara!" Er umarmte Venezia herzlich und sie unterhielten sich kurz.
Der Gnom, der wahrscheinlich Krimpik war, deutete einmal kurz auf Harry und stellte eine (dem Tonfall nach anzügliche) Frage, die Venezia energisch abstritt.
Dann fuhr sie auf Morporkianisch fort: "Onkel... darf ich vorstellen: Harry, ein Kollege... Harry, dies ist mein Onkel Krimpik."
Jeder Gnom kannte Krimpik dem Namen nach: Er war der Ansprechpartner der Ankh-morporkianischen Unterwelt, wenn es um Aufträge ging, die damit zu tun hatten, in geschlossene Räume einzudringen oder sonstige Aufgaben auszuführen, für die ein winziger Körper von unschätzbarem Vorteil war.
Zaghaft schüttelte Harry jetzt dessen Hand.
"Kommt mit, meine Lieben!" Krimpik lud sie mit unüberhörbarem Akzent und einer Geste in den Fuchsbau ein.
Während sie vorsichtig eine Leuchtkäfer-beleuchtete Wendeltreppe herunterschritten, tuschelte Harry aufgeregt mit seiner Kollegin.
"Und du meinst nicht, daß wir in Gefahr sind? Ich meine, wegen unserer Uniformen und so..."
"Keine Sorge! Onkel Krumpik hat nichts gegen Wächter. Erst recht, wenn es Gnome sind. Außerdem bin ich seine Nichte..."
"Was ist das hier eigentlich für ein Ort?"
"Was, du kennst das Fuchsloch nicht?" Venezia sah ihn verblüfft an. "Ich dachte, jeder Gnom in der Stadt kennt es!"
Inzwischen waren sie am Fuß der Treppe angekommen, und eine Höhle öffnete sich vor ihnen.
Sie hatte eine Grundfläche von etwas mehr als einem Quadratmeter, war für gnomische Verhältnisse also durchaus geräumig - und war vollgestellt mit winzigen Tischen und winzigen Stühlen. Dazu kam eine winzige Bar an einer Wand, hinter der ein ebenso winziger Wirt stand, der aus winzigen Flaschen Getränke in winzige Gläser füllte. Mehrere Gnome saßen an den Tischen und tranken oder spielten Karten.
"Wow!" Harry verschlug es erst einmal die Sprache, und benommen ließ er es zu, daß Krimpik sie an einen Tisch führte und ihnen etwas zu trinken bringen ließ.
"Du warst wirklich noch nie hier?"
"Ich dachte, es gibt vielleicht zwanzig oder dreißig Gnome in der ganzen Stadt... aber so etwas... Wahnsinn!" Harry betrachtete das Glas, das der Wirt ihm brachte. "Und ich habe immer aus einem Fingerhut getrunken... Wo bekommt ihr die Sachen alle her?"
"Von zu Hause! Aus Bergen! Und von Puppenmachergilde hier in Ankh-Morpork!" Krimpik hatte die Angewohnheit, jeden Satz mit einem Ausrufezeichen zu beenden - und wenn man ihn ansah, merkte man, woher Venezia ihr Temperament hatte: In einem Moment sah er aus wie jemand, der den Fuchs, dessen Fell er trug, mit eigenen Händen erlegt hatte - und im anderen wie ein vornehmer Geschäftsmann.
"Wahnsinn!" wiederholte Harry und genoß das Gefühl, auf einem echten Stuhl zu sitzen.
"Aber jetzt erzählt! Was ihr wollt von altem Krimpik?"
"Ach ja..." Venezia rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. "Onkel, Harry würde gerne die Regeln für Drachenpoker haben."
Krimpiks Lächeln erstarrte.

[Venezia]


Auch der Rest der anwesenden Gäste war schlagartig ruhig und den drei Gnomen am Tisch wandten sich duzende von Blicken zu.
Venezia rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
"Öhm, Onkel. Ist das unbedingt nötig, daß wir das hier besprechen? Ich mein, die ganzen Leute gucken und so. Können wir nicht nach hinten gehen?" Schweiß hatte sich auf ihrer Stirn gebildet.
Krimpiks Mine war zu Stein erstarrt. "Gut! Laßt uns nach hinten gehen! Ich glaube, wir haben zu reden, meine Liebe!" Hölzern erhob er sich und bewegte sich mit steifen Bewegungen zu einem roten Vorhang, der neben der Theke den Blick ins Hintere der Bar verdeckte.
"Komm Harry. Wir sollten ihn besser nicht noch mehr verärgern!" flüsterte Venezia ihrem Kollegen zu, erhob sich und folgte Krimpik. Auch Harry erhob sich, nervös von den Blicken der Gnomen an den anderen Tischen, die sich in seinen Rücken (und nicht nur dahin) bohrten.
Plötzlich machte Venezia einen Ausfallschritt zu einem der Tische, packte einen sehr überrascht wirkenden Gnom dort am Kragen und zog ihn vom Stuhl hoch, nur um die um einiges größere Gestalt gleich darauf auf ihre Augenhöhe herunterzuzerren.
"Was?!? WAS!?! Glotz mich nicht so doof an!" Sie wandte sich, den Gnom immer noch am Schlafittchen gepackt, zu den anderen Gästen der Bar. "Und das gilt auch für euch! Wenn ihr nicht sofort etwas anderes sucht, dem ihr eure Aufmerksamkeit schenken könnt, werde ich euch alle verhaften! Ich kenne eure schmutzigen Geheimnisse, ich weiß, was ihr wo in euren Kellern versteckt habt und ich bin über eure illegalen Tätigkeiten der letzten Monate bestens informiert! Wir haben in der Wache zwar nicht viele Zellen, aber die sind für Menschen ausgerichtet! Euch kriege ich da ohne Probleme unter!"
Mit einem irren Blick in den Augen, den sowohl Wächter als auch Verbrecher bei der Gnomin zu fürchten gelernt hatten ließ sie den Gnom am Ende ihres linken Arms unsanft wieder auf seinen Stuhl gleiten und beobachtete voller Befriedigung, wie die anderen Gäste krampfhaft versuchten, desinteressiert den Inhalt ihrer Gläser zu inspizieren.
Stolz wandte sie sich um und verschwand durch den Vorhang in den hinteren Teil der Bar.
Während Harry ihr folgte, erwischte er sich bei dem Gedanken, welches Tier Venezia wohl erlegen würde, wenn sie irgendwann auf die Idee kam, sich anders zu kleiden.
Einen Tiger? Einen Löwen?? Einen Werwolf???
Dann trat auch er durch den Vorhang.

[Harry]


"So." Krimpik deutete auf einen Tisch in der Ecke. "Setzt euch."
Die beiden Wächter folgten der Aufforderung, und Krimpik stellte schweigend ein paar Gläser auf den Tisch. Dann wandte er sich seiner Nichte zu, und beide begannen, in der Harry unbekannten Sprache, miteinander zu tuscheln.
Nach kurzer Zeit drehte sich Venezia wieder zu ihrem Kollegen: "Also... wie soll ich sagen... die Sache mit Drachenpoker... ich habe ja gewußt, daß Onkel Krimpik das nicht gerne hören würde, aber daß er gleich _so_ reagiert... ich dachte, er würde vielleicht ein Auge zudrücken."
"Wieso, was ist denn?" Harry wünschte sich langsam, er hätte nie nach diesen dummen Regeln gefragt.
"Na ja... wie soll ich sagen... Onkel Krimpik hat das Ganze eigentlich nicht als Glücksspiel erfunden. In erster Linie sollten es Codes sein, mit der sich Mitglieder seiner "Organisation" unterhalten konnten. Wer Mitglied wird, der muß alle Codes - das heißt, alle Regeln - lernen und wissen, was sie genau bedeuten. Was dann für Außenstehende wie ein Kartenspiel wirkt, kann dann in Wirklichkeit eine geheime Kommunikation sein."
"Ach, deshalb sind die Regeln so kompliziert?"
"Genau. Und wenn man mit einem Hexenzirkel einen Verrückten Herzog schlägt, dann bedeutet das in Wirklichkeit..."
"Genug!" Krimpik, der bisher stumm daneben gesessen hatte, erhob sich. "Err weiß schon zuviel."
Harry zuckte zusammen - er kannte das aus den Klickern: Wenn bedrohlich wirkende Leute mit ausländischem Akzent sagten "er weiß zuviel", dann bedeutete dies praktisch immer ein baldiges Ende.
"Aber... beruhige dich, Onkel. Harry würde nie... ich meine... und außerdem kennt er die Regeln sowieso nicht, er vergißt sie immer sofort wieder" versuchte Venezia Krimpik mit einem hämischen Seitenblick auf Harry zu beruhigen.
"Was? Das stimmt nicht! Letztes Mal hätte ich beinahe..."
"A-ha!" entfuhr es Krimpik und Venezia verdrehte die Augen.
"So wie ich dies sehe, Junge", erklärte der alte Gnom, "es gibt zwei Wege für dich: Du kommst entweder mit Fußgewicht in Ankh - oder du hörst auf, Wächter zu sein, und arbeitest für mich. Das sind einzige Wege, wo du jetzt Codes kennst."
"Aber... sie kennt sie doch auch!" stammelte Harry und deutete auf Venezia.
"Sie ist Verwandtschaft. Das ist was anderes. Aber sie darf nie, nie, nie wieder anderen Regeln erklären! Sie kann gehen. Aber du, Junge, hast jetzt Wahl."
Harry, dem weder die eine noch die andere Alternative sonderlich behagte, warf einen stummen Seitenblick zu seiner Kollegin: _Sag doch etwas!_

[Venezia]


Mit tiefen Falten des Ärgernisses auf der Stirn erhob sich Venezia (betont langsam natürlich, wegen der Dramatik), straffte die Schultern und schob sich zwischen Harry und Krimpik. Mit verschränkten Armen starrte sie herausfordernd in das Gesicht ihres Onkels und preßte die Lippen aufeinander.
"Was soll das, Venezia?! Du bist eine Knurblich! Fall der Familie nicht in den Rücken!!" Krimpiks Augenbrauen berührten sich auf dem Nasenrücken. "Geh mir aus dem Weg!"
Venezia atmete tief durch. Die Temperatur im Raum sank um mindestens 3 Grad, als Venezia ansetzte zu reden: "Ja, Onkel. Du hast recht, ich bin eine Knurblich. Das ist mein Geburtsrecht, und das kann mir keiner nehmen. Aber ich bin auch Obergefreite in der Wache von Ankh-Morpork. Und dafür hab ich hart... ich mein... dafür hab ich was getan. Und das habe ich mir ausgesucht. Und Harry ist ebenfalls Wächter. Und er ist mein Kollege. Nicht nur das, er ist auch mein Vorgesetzter. Und deswegen werde ich nicht gehen. Deswegen werde ich hier bleiben. Und egal, wie er entscheidet, und egal, was du tust, ich werde zu ihm stehen. Ihm gilt meine Loyalität. Mehr als dir, mehr als der Familie!" Die Gnomin schien um ein paar Zentimeter zu wachsen, oder Krimpik schrumpfte. Oder war das nur ein Lichtreflex der flackernden Kerzen?
Lange war es still. Lange starrten Krimpik und Venezia sich nur an. Harry versuchte, sich hinter Venezias Rücken ganz klein und unscheinbar, fast unsichtbar zu machen.
"Venezia, Liebes! Vor 154 Jahren bin ich extra aus dieser Stadt in die Morpork-Berge gereist, weil du geboren wurdest! Als du 50 wurdest, habe ich die Reise wieder angetreten, um bei deiner Weihe zur Volljährigkeit beizuwohnen, weil du zur Familie gehörst! Zählt das alles gar nichts?!" Krimpik wirkte verletzt.
Langsam nickte Venezia. "Doch, Onkel. Das alles zählt. Und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwer mir das fällt, hier zwischen euch zu zählen. Aber meine Familie konnte ich mir nicht aussuchen. Die Wache schon. Und diese Leute sind wie eine Familie für mich. Ich habe mich entschieden. Ich kann mich nur wiederholen. Ich bleibe hier, ich lasse Harry nicht im Stich."
Wieder war es eine Zeit lang still, nur wenn man ganz genau hinhörte, konnte man das leise Knistern der Blitze vernehmen, die zwischen den Augen der beiden Knurblichs hin und her zischten.
"Gut, Venezia! Ich weiß Loyalität zu schätzen! Du sollst deine Chance bekommen! Aber dann sind alle deine Kredite bei mir verbraucht! Du bist immer noch Familie, aber du hast entschieden! Ich biete dir einen Deal an! Es geht um Drachenpoker?! Gut, spielen wir Drachenpoker! Ohne Zusatzregeln, einfach so! Wenn ich gewinne, gehst du! Wenn du gewinnst, geht ihr beide, und ihr habt nichts weiter zu befürchten!"
Beinahe unmerklich nickte die Gnomin, spuckte sich in die linke Hand und streckte sie ihrem Onkel hin. Der spuckte sich ebenfalls in die Handfläche und schüttelte ihre.
Dann setzten sie sich schweigend an den Tisch und Krimpik zog einen Stapel Karten hervor.
Harry wagte nicht, sich zu rühren. Schlagartig wurde ihm klar, daß es mehr als gut war, daß Venezia zur Wache gehörte, denn wenn sie nicht dort ihr Heim gefunden hätte, wäre sie wohl an der Kehrseite, dem organisierten Verbrechen, eine ganz große Nummer.
Schweigend teilte Krimpik die Karten aus und schweigend fingen die beiden an zu spielen. Gerne hätte Harry seiner Kollegin ins Blatt gesehen, aber er traute sich nicht, sein Leben hing von eben diesen Karten ab.
Dann war der Augenblick der Entscheidung gekommen. Krimpik legte seine Karten auf den Tisch: Eine Schüssel mit Gumbo, ein Märchenschloß, einen Zombie, Lily Wetterwachs, eine Kürbiskutsche, ein blubbernder Sumpf und eine bunte Maske: Samedi Nuit Mort in Gennua, noch dazu mit Lily als Bonus!
"Meine Liebe, das sind 110 Punkte!" ein breites Grinsen machte sich auf Krimpiks Gesicht breit.
Venezia schüttelte den Kopf: "Onkel, du solltest dir überlegen, mit wem du hier spielst! Es sind keine 110 Punkte, sondern nur 90, weil dir fehlt was!" Sie drehte die 8. Karte auf ihrer Hand um: eine Uhr, deren Zeiger auf 12 gestellt waren. "Die Demaskierung, ohne die ist das Blatt lange nicht so viel wert. Nicht schummeln!"
Krimpik zuckte mit den Schultern. "Man merkt, wo du Drachenpoker gelernt hast, meine Liebe! Ich bin nun mal der Beste, was dieses Spiel angeht! So, nun du, auch 90 wirst du ja wohl kaum schlagen können..!" Krimpik lehnte sich zurück und lächelte wieder.
Venezia ließ 5 ihrer 7 noch verbleibenden Karten auf den Tisch sinken: Königin Molly, einen Haufen Bettler, eine leere Hand, einen furchtbar aussehenden aber ungefährlichen Ausschlag und das Gildenhaus der Bettler, also einmal die komplette Gilde.
Von Harry konnte man ein undefinierbares Quieken vernehmen. Krimpiks Grinsen wurde breiter. "Wie schön, die Bettlergilde! 70 Punkte, das reicht nicht. Was hast du noch?!"
Venezia legte die letzten beiden Karten auf den Tisch. Einmal Ron und dann noch seinen Geruch, zusammen den stinkenden alten Ron. "Damit bekomme ich 20 Punkte Bonus auf die Gilde, ich liege auch bei 90, Onkel!" Grimmig dreinschauend lehnte Venezia sich zurück.
Krimpik rieb sich den Bart. "Hmmm, unentschieden! Was nun?! Ich würde sagen, im Zweifelsfall für den Kläger, also für mich! Geh, Venezia!"
Seufzend erhob sich die Gnomin. Sie drehte sich zu Harry um und flüsterte: "Es tut mir leid, ich hab's versucht." Mitfühlend klopfte sie ihm auf die Schulter. "Ich werd dich in guter Erinnerung behalten."
Mit Harrys Selbstbeherrschung war es jetzt endgültig vorbei. Seine Beine gaben nach wie Gummi und er ließ sich wimmernd auf den Stuhl sinken. Venezia machte sich auf zu dem roten Vorhang und zog ihn zur Seite. Dort blieb sie stehen.
"Onkel?"
"Ja, meine Liebe?!"
"Welchen Monat haben wir?"
"Spuni, warum?!"
"Und welchen Tag?"
"Den 14., aber warum fragst du?!"
Harry sah fassungslos zwischen den beiden hin und her. Wen interessierte das? Es ging hier um sein Leben und diese verdammte Gnomin hatte nichts besseres zu tun, als sich über das Datum zu informieren! Venezia stand in der Tür und überlegte.
"Onkel?"
"Was?!" Krimpik war schon sichtlich genervt.
"In welchem Monat ist Samedi Nuit Mort?"
"März! Warum?!"
Lächelnd drehte Venezia sich um. "Gut! Wenn ich richtig rechne, und ich rechne richtig, dessen bin ich mir sicher, fiel der Samstag des Samedi Nuit Mort dieses Jahr auf den 14. März. Das ist exakt ein halbes Jahr her. Das bedeutet, 10 Strafpunkte für dich, also 80 Punkte für dich und 90 für mich. Ich habe gewonnen!"
Jauchzend sprang Harry von seinem Stuhl auf. Er war so glücklich, daß er dem nahe sitzenden und erstarrten Krimpik um den Hals fiel. Dann tanzte er auf Venezia zu und an ihr vorbei durch den Vorhang.
Diese zuckte mit den Schultern. "Ich gehe jetzt, Onkel. Bis bald."
"Ja, tu das. Und noch was, Venezia!"
"Ja, Onkel?"
"Wenn ich dich noch mal dabei erwische, wie du so dilettantisch Karten aus deinem Ärmel ziehst wie heute abend, dann ziehe ich dir die Ohren lang, haben wir uns verstanden?!"
Die Gnomin drehte sich um und blickte in das gutmütig grinsende Gesicht von Krimpik.
Sie lächelte. "Ja, Onkel!"
Dann ging sie durch den Vorhang... wo sie beinahe mit einem finster dreinblickenden Harry zusammenstieß. "Venezia, du hast WAS?!?" schnauzte der sie an.
"Öhm, ich habe... ich meine..."
"Du hast geschummelt? Hast du etwa geschummelt? Ich meine, nicht jetzt, ich mein, in der Wache?!? DU HAST GESCHUMMELT?!?!?" schrie er sie an.
Venezia hakte sich bei ihm ein und zog ihn in Richtung Eingang. Sie hatte ihm auf dem Weg zur Wache viel zu erklären und noch mehr Dollar zurückzuzahlen.

Im Hinterzimmer vermeinten die beiden das leise Gelächter von Krimpik zu vernehmen...

ENDE



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